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BANKGESCHICHTEN
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Schon beim Aufstehen hatte Erwin ein mulmiges Gefühl. Auch die strahlende Morgensonne konnte seine Unsicherheit nicht überdecken. Ob er sich wohl zu weit zum Fenster hinauslehnt? Die ganze Woche hat er mit sich gerungen, Für und Wider abgewogen und sich Mut zugeredet. Aber, wenn nicht jetzt, wann dann? Schliesslich ist er in seinem Beruf zu Transparenz, Wahrheit und Offenheit verpflichtet. Und jetzt steht Erwin ernüchtert in der Sakristei.

 

Die Kirchenbesucher konnte man wie jeden Sonntag an wenigen Händen abzählen. Die Zahl wird immer tiefer und das Alter immer höher.

 

Mein lieber Gott, ich verstehe die Welt nicht mehr, klagt Erwin vor sich hin. Die Kerzen sind ausgeblasen, das Messgewand im Schrank versorgt, der Kelch im Tresor eingeschlossen und seine Manuskripte in der speckigen Ledermappe eingepackt. Sein mulmiges Gefühl vom morgen hat sich in pure Frustration gewandelt.

       

Seine Predigt wurde schlecht aufgenommen. Wenn der alte, stockkonservative Richner in der vierten Reihe aufsteht und zur Kirche herausläuft, dann weiss Erwin genau, dass ihn morgen der Dekan zur Rede stellt. Er wird seinen engagierten Aufruf für die Aufnahme von mehr Flüchtlingen bis ins Detail begründen müssen. Er wird darlegen müssen, warum er ohne Erlaubnis das Opfergeld der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zusprach und warum er eine Flüchtlingsfamilie zum Gottesdienst eingeladen hat. Und warum acht von den 32 Personen die Messe demonstrativ verlassen haben. 

Dabei hat er doch von seinen Kirchenbesuchern nur gefordert, was diese alle auch für sich fordern: Menschlichkeit und Toleranz.

Holzbank

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