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HAUSGESCHICHTEN

Es war ein gelbes A4-Blatt im Briefkasten, das bei Huber-Achermann eine kleinere Aufregung auslöste. «Samstag, 8-14 Uhr. Altpapiersammlung. Zeitungen gebündelt vor das Haus stellen. Ihr Turnverein.» war die simple Botschaft. Und tatsächlich, am Samstagmorgen standen die Altpapierbündel wie kleine Schneemänner vor den Häusern. 

  

An der Rosenbergstrasse sind Altpapier-Bündel wie eine Charakterstudie der Bewohner. Bei jenen der alten Baumberger, sie wohnen vis-à-vis von Huber-Achermann, fragt man sich, ob die Zeitungen überhaupt je geöffnet wurden. Fein säuberlich geordnet und auf der Falzseite mit Massstab ausgerichtet stehen die verschnürten Bündel vor dem Gartentor. Die Soltermann von der anderen Strassenseite stopfen ihr Altpapier einfach in Migros-Tragtaschen. Papier ist Papier brummte der rundliche Familienvater und regt sich fürchterlich auf, wenn dann die unverschnürten Taschen einfach stehen gelassen werden. Das Bündel von Petric ist jeweils so dünn wie ein Wienerschnitzel und ausschliesslich aus farbigen Werbesendungen zusammengesetzt. Nur jene von Huber-Achermann sind anders. Chaotisch, alles wild durcheinander aufeinandergestapelt und mit einer dicken Schnur zusammengepresst. Der erste Blick zeigt, dass diese mit grossem Ärger zusammengebündelt wurden. 

 

Schon die ganze Woche lag Thomas Huber-Achermann das gelbe Blatt auf dem Magen, das ihm seine Frau Seraina am Montag auf den Schreibtisch gelegt hatte. Er weiss genau, dass es sein Job ist, das Altpapier zu entsorgen. Seraina meint bloss, dass mindestens die Hälfte auch von ihm verursacht würde. Sohn Moritz beziehe seine Infos von seinem Natel papierlos, Rosa's Papierverbrauch beschränke sich auf ihre ersten Schulhefte und die überzähligen Geburtskärtchen der kleinen Eva sind längst entsorgt. Also, wo ist das Problem? 

 

Thomas hat begriffen. Und so wandert er an jenem Samstagmorgen durch das Haus, um überall verstreute Papierdepots zusammenzusammeln. Reiseprospekte (hä? staunt er für sich), rot-gelbe Prospekte mit Billigangeboten, alte Abstimmungsunterlagen, Blätter, Blutspende-Aufgebote, Frühlingsmodehefte, Vorsorgeprospekte, Schweizer Familie, Geschenkpapier, Bettelcouverts und eben Zeitungen mit ihren unzähligen Beilagen. Gemacht ist gemacht. Entschlossen packt er an, sammelt ein was nach Altpapier aussieht und verarbeitet das Material unsortiert zu stattlichen Bündeln. Und zwar so, dass sich die Sammler wegen dem Gewicht ärgern werden. 

 

Stolz betrachtet Thomas vor dem Haus seine Bündel. Nicht schön, aber keiner hat mehr als er. Er findet es eine passende Gelegenheit, seinen Informationshunger nach aussen zeigen zu können. Jene von Baumberges liegen schon seit sieben Uhr bereit. Er hat auch die ganze Woche Zeit, diese bereit zustellen. Thomas reizt es jedesmal, ein Baumberger-Bündel zu sezieren. Es ist bestimmt Baumbergers Taktik, immer eine NZZ, eine Bilanz oder einen Hotelprospekt vom Kempinksi zu oberst zu platzieren. Doch was ist zwischen drin? Huber-Achermann und Baumberger werden kaum die besten Freunde werden. Baumbergers haben sich ja auch ein alleinstehendes Ehepaar statt eine Familie mit drei Kindern als Nachbarn gewünscht. So what. Doch damit lässt sich es leben. 

 

Papa, hast du mein Zeugnis unterschrieben? Rosa schaut ihn mit erwartungsvollen Augen an. Sie muss ihr erstes Zeugnis morgen wieder in der Schule abgeben. Sie ist besonders stolz, weil sie darin von der Lehrerin mit blumigen Worten als aufgeweckt und interessiert gelobt wurde. Wo ist es? Thomas versteht nur Bahnhof. Zeugnis? Vielleicht in der Kommode? Aber in der Kommode ist es nicht. Vielleicht in der Küche? Aber in der Küche ist es auch nicht. Es war immer hier, weint Rosa und zeigt mit ihrem tapsigen Zeigefinger auf die Ablagefläche beim Eingang. Plötzlich ist Thomas hellwach. Wie ein Verrückter rennt er vor das Haus, wo er noch heute morgen über die blöden Bündel gelästert hatte. Aber der Platz ist leer, das Altpapier fort. 

Altpapier

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