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KOLUMNE

Kleine Lügen erhalten die Freundschaft

Meine Mutter würde schmunzeln, wenn sie meine Kolumne über das Lügen lesen könnte. Da musstest du ja kaum lange überlegen, wäre ihr Kommentar. In ihren Augen war ich der kleine Junge, der sich freie Schulnachmittage erschwindelte, Verbotsschilder missachtete, Milchkästen zuschraubte, Velosättel vertauschte, heisse Geldstücke auf der Strasse platzierte und von allem nichts wusste. Ich? Oh nein, keine Ahnung! Ich habe das unter Jugendsünden abgebucht. Tempi passati, ich habe mich geändert.

 

Glaubte ich. Doch jetzt wird mir im Internet eine Zahl unterstellt, die mich echt stutzig macht. 200 Mal pro Tag lügt der Mensch! Zweihundert Mal! Zwar steht nirgends so genau, durch wen und mit welcher Studie diese Zahl erforscht wurde. Aber wenn selbst seriöse Untersuchungen noch rund einen Viertel errechnen, dann sind das 2 mal Lügen pro Stunde! Bumm!

 

Wem sollen wir denn noch glauben? Gemäss Washington Post hat der amerikanische Präsident seit Amtsantritt mehr als zehntausendmal falsche Aussagen gemacht habe. Auch in der Schweiz sind in politischen Diskussion Wahrheit und Lüge kaum mehr auseinanderzuhalten, es braucht Faktenchecks. Wirtschaftsführer streiten Fehlverhalten ab, bis es nicht mehr anders geht. Und bei Auswertungen von Umfragen wird geschummelt, bis die Aussagen passen. Ist Lügen also salonfähig geworden? 

 

Lassen wir einmal die widerlichen Lügen, die anderen einfach schaden, mal beiseite. Aber gibt es auch noch die kleinen Schummeleien, Verzerrungen und Übertreibungen, mit denen wir uns durch den Alltag jonglieren. 'Heute abend? Da kann ich nicht, ich habe bereits abgemacht.‘ Oder: 'Oh, die neue Frisur steht dir ausgezeichnet!‘ Oder der verspätete Handwerker ruft an, er stehe im Stau. Oder man ‘liked’ auf Instagram jeden noch so abstrusen Post. Und so steigert sich der Stand des Lügenkontos kontinuierlich in die Höhe.

 

Aber, funktioniert ein Alltag ohne Lüge? Man könnte es ja versuchen! Angenommen, Claudia und Moritz laden ihre neuen Nachbarn Sonja und Werner zu einem gemütlichen Nachtessen ein. Um viertel nach sieben klingelt ea an der Türe. Moritz öffnet: «Endlich, ihr seid schön spät.» Werner räuspert sich: «Mmh, wir hatten noch Streit und Sonja wollte zuhause bleiben...» Umständlich versucht Werner, die Blumen aus dem Papier zu wickeln. »Die sind für die Dame!» und reicht Claudia einen bunten Frühlingsstrauss. «Oh, danke, aber Tulpen kann ich überhaupt nicht ausstehen!». Wenig später sitzen sie im Wohnzimmer beim Apéro. Sonja schaut sich neugierig um. «Das ist überhaupt nicht mein Style. So ein dunkler Parkettboden macht mich depressiv.» Moritz schenkt nach und prostet ihr zu. Claudia startet den Small-talk: «So, und wie geht’s euch?». Sonja lehnt sich zurück und streckt beide Arme in die Höhe: «Oh, eigentlich geht es mir mies. Ich musste mich richtig überwinden, zu kommen. Und euch?» Claudia überlegt, «Uns geht es ganz gut, aber einen gemütlichen Abend zu zweit wäre uns auch lieber gewesen, gäll Moritz!». Der Abend wird später. «Schmeckt’s?», fragt Claudia in die Runde. «Das Gemüse ist wunderbar, aber das Fleisch ist etwas zäh und die Sauce hätte auch mehr Pfiff vertragen.» Prost! Werner hebt sein Weinglas prüfend gegen die Kerze. «Mmmh, na ja … hätte besser zu weissem Fleisch gepasst und etwas warm ist er auch!» Die beiden Flaschen waren trotzdem leer, als sie sich verabschiedeten und Sonja meinte: «Danke für die Einladung, ihr seid ja gar nicht so übel...»

 

Also, kleine Lügen erhalten die Freundschaft. Auch ich bediene mich auch aus Bequemlichkeit so kleiner Notlügen. «Wie gefällt dir diese Bettwäsche?» - «Oh, ist ganz hübsch!» -  «Hübsch? Ich finde sie scheusslich, aber wenn sie dir gefällt, dann kaufen wir sie doch!». Und so schlafen wir in Bettwäsche, die beiden nicht gefällt.

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